Altar

Der Flügelaltar in der Stiftskirche zu Obernkirchen
Eine kurze Erklärung und Deutung von Pastor im Ruhestand Dr. Hermann Müntinga

1. Entstehung

Im Jahre 1996 hat die evangelisch lutherische Kirchengemeinde das 500-jährige Jubiläum des Flügelaltars in der Stiftskirche festlich begangen.

Dieser Altar, in dessen Mittelpunkt die Passion und die Auferstehung Jesu steht, hat bis heute die Aufmerksamkeit und Bewunderung der Betrachter und Betrachterinnen geweckt. Er ist der besondere Schmuck der Kirche. Auf einer (im Original nicht mehr erhaltenen) Urkunde wird über die Weihe u.a. folgendes berichtet:

„Im Jahre 1496 – eben am Tag (28. August) des Bischofs und Bekenners Augustin – wurde von unserem Vater und Herrn Johannes, durch Gottes und des apostolischen Stuhles Gnaden Bischof von Misenum, Weihbischof des Herrn Heinrich von Minden, der gegenwärtige Altar geweiht, zur Ehre des allmächtigen Gottes und der seligen Jungfrau Maria, Hauptpatronin durch Unterstützung der göttlichen Gnade, und zur Ehre des seligen Apostels Petrus und des Bischofs Augustin“ … (Deutsche Übersetzung des lateinischen Textes)

Die neuesten kunstgeschichtlichen Forschungen (u.a. Prof. R. Suckale) machen es wahrscheinlich, dass der aus Lindenholz geschnitzte und vergoldete Flügelaltar mit seiner Predella aus Obernkirchener Sandstein nach 1516  – d.h. nach dem Amtsantritt des Stiftsprobstes Johannes von Busse – hier aufgestellt worden ist.

Er stammt vermutlich aus einer Hamburger Werkstatt, die mit Schnitzern und Malern auch an dem Marienaltar auf der Stiftsprieche gearbeitet hat.

Er ist 1995 zum bisher letzten Mal von dem Restaurator H. Icks (Bramsche) gereinigt und farblich aufgefrischt worden.

2. Das Bildprogramm

Das Bildprogramm weist diesen Altar – in einer Marienkirche bemerkenswert – als einen ausgesprochenen Christus- und Kreuzigungsaltar aus. Die Heiligen sind hier nur „Randfiguren“. Sie kommen als Kleinfiguren zwischen den insgesamt 13 Fächern und als Gestalten links und rechts über den Fächern vor. Maria ist ausser im Mittelteil, der Kreuzigung, nur  gemalt  auf der Rückseite des linken Seitenflügels zu sehen. Dort ist sie mit dem Jesuskind und dem Josef abgebildet.

Auf der Rückseite rechten Seitenflügels erscheint die Heilige Anna, die Mutter der Maria, mit drei Männern.

Im übrigen steht ganz die Passion Jesu Christi im Mittelpunkt.

Die einzelnen Fächer zeigen folgende Szenen:

Das Mittelbild zeigt die Kreuzigung mit den Schächern, der Gruppe der Frauen, dem Hauptmann und verschiedenen Zuschauern. Die lateinische Unterschrift lautet: „crufixus est pro nobis“ = gekreuzigt wurde er für uns.

Auf der linken Seite oben ist von links nach rechts zu sehen:

1. Jesus im Graten Gethsemane mit der Inschrift: „orat patre“ = er betet zum Vater

2. Die Geisselung Jesu mit der Inschrift: „flagellatur“ = er wird gegeißelt

3. Die Darstellung Jesu durch Pilatus. Inschrift: „ecce homo“ = seht, ein Mensch

 

Auf der linken Seite unten von links nach rechts:

1. Die Dornenkrönung. Inschrift: „spinis coronatur“ = er wird mit Dornen gekrönt

2. Die Verurteilung Jesu. Inschrift: „condemnatur“ = er wird verurteilt

3. Jesus wird zur Kreuzigung geführt. Inschrift: „ducit ad mortem“ = man führt ihn zum Tode

Auf der rechten Seite oben ist von links nach rechts zu sehen:

1. Abnahme vom Kreuz. Inschrift: „de cruce deponit“ = er wird vom Kreuz genommen

2. Die Grablegung Jesu. Inschrift: „sepultus est“ = er wurde begraben

3. Jesus steigt in die Totenwelt. Inschrift: „vadit ad inferna“ = er ist hinabgestiegen in das Reich des Todes (Worte aus dem Apostolischen Glaubensbekenntnis)

Auf der rechten Seite unten von links nach rechts:

1. Die Auferstehung Jesu. Inschrift: „resurrexit“ = er ist auferstanden

2. Die Begegnung Jesu mit Maria Magdalena. Inschrift: „noli me tangere“ = berühre mich nicht (Johannes 20, Vers 17)

3. Jesus und die Jünger in Emmaus. Keine Inschrift enthalten.

Insgesamt zeigt der Altar mehr als 200 Figuren. Über den Tafeln erscheinen links: ein unbekannter Heiliger und Johannes der Täufer (am Lamm zu erkennen) und rechts: Johannes der Jünger (mit dem Kelch) und der Märtyrer Laurentius (mit dem Rost)

Die Flügel waren ursprünglich nur zu Feiertagen aufgeklappt und zeigen sonst als Alltagsseite links das Bild der Maria und rechts das Bild ihrer Mutter Anna.

3. Die Deutung

Der Kreuzigungsaltar ist ein Zeugnis für den Einfluß der sog. devotio moderna , einer von den Niederlanden ausgehenden Frömmigkeitsrichtung des späten Mittelalters, die die Bedeutung Jesu Christi und seines Leidens „für uns“ neu betonte. Insofern bereitet sie der Reformation den Weg. In Obernkirchen begann sie 1559 mit der evangelischen Predigt des Matthias Wesche und wurde 1565 mit der Schaumburger Kirchenordnung amtlich besiegelt.

Im Mittelpunkt steht hier der Weg Jesu von der einsamen Stunde im Garten Gethsemane bis zu dem österlichen Mahl des Auferstandenen mit den beiden Jüngern im Ort Emmaus.

Der Schnitzer hat auf dem Altar die ganze Skala menschlicher Verhaltensweisen sichtbar gemacht: Unglauben wie Glauben, Hochmut wie Demut, Angst und Müdigkeit, die hämische Freude an brutaler Gewalt und die Trauer, die aus der Liebe kommt und darum öffentlich den Schmerz zeigt; die Einsamkeit des Einzelnen und das Gewimmel einer Masse, die Macht des Pilatus, die scheinbar unbegrenzt ist und sich dennoch der Volksmeinung beugt, und die Ohnmacht des Gefangenen, der am Ende der Sieger bleibt.

Das Böse ist gegenwärtig (z.B. in den Teufelsgestalten hinter Gittern und in der Totenwelt), aber es wird nicht dämonisiert. Das Leiden wird realistisch dargestellt, aber nicht genüßlich wie auf anderen Altären ausgemalt. Der Tod als das dunkle Geheimnis am Ende des Lebens, das in unserer Gesellschaft oft verschwiegen wird, wird sichtbar gemacht, aber er wird in den Schatten gestellt durch das Licht des Lebens, das von der Auferstehung Jesu ausgeht.

So reizt dieser Altar auch die gegenwärtigen Betrachter, die sich für ihn Zeit nehmen und nicht nur einen flüchtigen Blick auf ihn werfen, zum Nachdenken über den Sinn ihres Lebens, über den Sinn des Glauben an diesen Jesus. So ist er der Ort, an dem sich die Gemeinde zu seinem Abendmahl versammelt, „mühselig und beladen“, aber „wunderbar getröstet“.

P. i. R. Dr. Hermann Müntinga, April 2003

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